“Geschichten von Menschen, die es geschafft haben, laufen immer Granate”
Isabel Schayani, Leiterin WDRforyou
Gelungene Integration ist eine Frage der Perspektive, findet Isabel Schayani. Die Leiterin des WDR-Angebots für Geflüchtete weiß: Ihr Publikum liebt Erfolgsgeschichten. Für sie gehört der Einser-Abiturient aus Afghanistan genauso dazu, wie die Syrerin, die nach fünf Jahren zum ersten Mal mit der Straßenbahn fährt. Über die Arbeit mit, über und für Geflüchtete. Ein Beispiel für unbeabsichtigt konstruktiven Journalismus.
Seit Ihrer Rückkehr als ARD-Korrespondentin in New York im Oktober 2015 beschäftigen Sie sich sehr fokussiert mit den Themen Flucht und Migration. Wie hat sich dadurch Ihr Alltag als Journalistin verändert?
Vielleicht zeigt eine kleine Begebenheit, wie sich mein Leben verändert hat. Ich bin neulich kurz aus dem Haus gegangen, um etwas einzukaufen, und dann sitzen da zwei Typen in einem etwas abgewrackten Auto und sagen „Hallo Isabel, können wir ein Foto mit dir machen?“. Das waren zwei iranische Flüchtlinge. Vor 2015 hat mich niemand angesprochen. So einen direkten Kontakt mit Usern, Zuschauern und Hörern kannte ich früher nicht. Es ist ja auch so, dass die Interessen von Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, von den etablierten Medien kaum berücksichtigt werden. Mit „WDRforyou“, einem Angebot für Geflüchtete in vier Sprachen, will der WDR hier Abhilfe schaffen.
Bietet die Redaktion den neuen Usern auch ein Stück Heimat?
Vielleicht eine Art sicherer Raum im Netz. Eine virtuelle Heimat. Aber von unserem Selbstverständnis her wäre das eher schwierig. Wir haben immer gesagt, wir erklären Deutschland, wir sagen euch, was hier geht und was nicht. Wer bleiben darf und wer gehen muss. Wir erklären auch sehr detailliert, wie Abschiebungen funktionieren. Aber durch die Mehrsprachigkeit haben wir natürlich einen anderen Ton.
Welche Themen und Formate sind denn bei „WDRforyou“ noch besonders gefragt?
Bei uns laufen in der Regel Sachen gut, die auf Augenhöhe sind. Auf Augenhöhe zu berichten heißt, schnell Fragen zuzulassen, User ernst nehmen, ihre Themenanregungen aufgreifen und im Dialog bleiben. Der Gipfel der Augenhöhe und Transparenz heißt zurzeit „Stream Yard“. Auf dieser Plattform machen wir unsere Livestreams. Dort können sich unsere User einfach in die Sendung hinein klicken, ihre Meinung sagen und Fragen stellen. Und sie bekommen eine Antwort. Unmittelbar. Live. Das machen wir fast jeden Tag.
Zwischenzeile: „Wir können nicht immer Katastrophen zeigen“
Was ebenfalls sehr gut funktioniert, ist eine gesunde Mischung aus Erfolgsgeschichten und Geschichten von Menschen, die noch auf dem Weg sind. Geschichten von Menschen, die es geschafft haben, laufen immer Granate. Wir haben mehrere Reportagen über den Abiturienten aus Afghanistan mit einem Notendurchschnitt von 0,8 gemacht. Aber die Überflieger machen ja nur einen ganz kleinen Teil aus. Bei den meisten dauert es lang, es ist schwer und schmerzhaft. Wir wollen ein realistisches Bild zeigen, und dazu gehört sowohl der Geflüchtete mit dem Einser-Abi als auch der Fahrschüler, der viermal durch die Führerscheinprüfung gefallen ist. Außerdem sind Integration und Erfolg eine Frage der Perspektive. Wir haben neulich über eine Frau berichtet, die fünf Jahre nach ihrer Ankunft zum ersten Mal Straßenbahn gefahren ist, von irgendeinem Ort im Sauerland nach Dortmund. Das war für sie eine riesige Nummer. Und sie hat sich getraut, dies vor der Kamera zu sagen. Das ist Gold wert. Sehr mutig.
Das sind ja beides Erfolgsgeschichten.
Ja, das stimmt. Wir haben oft Beiträge, die den Blick nach vorne richten. Wir können nicht immer nur Katastrophen zeigen.
Aber über Katastrophen und katastrophale Zustände können Journalisten ja auch nicht hinwegsehen. Sie haben 2014 in dem Film „Deutschlands neue Slums – Das Geschäft mit den Armutseinwanderern“ über die katastrophalen Lebensumstände von Roma und Sinti berichtet und sind dafür dem Deutschen Sozialpreis ausgezeichnet worden. Sind es auch diese Geschichten, die Sie als Journalistin antreiben?
Ich war nicht sofort begeistert. Aber die ehemalige WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich riet mir damals, das Thema umzusetzen. Und in dem Moment, in dem man anfängt, nicht mehr eine gesellschaftliche Gruppe zu sehen, sondern den einzelnen Menschen, sieht die Welt anders aus. Ich sah in Dortmund im Schnee keinen Bulgaren, Sinti oder Roma vor mir stehen, sondern einen frierenden Menschen, der keine Handschuhe hatte. Und dann fange ich als Reporterin an, mir andere Fragen zu stellen. Nämlich: Wo hat dieser Mensch übernachtet? Was hat er dafür pro Nacht bezahlt?